DirigentKünstlerischer Leiter der Europäischen Filmphilharmonie
Einer der wichtigsten Repräsentanten der deutschen Stummfilm-Musik war der Komponist Gottfried Huppertz.[1] Er studierte Musik am Konservatorium Köln, arbeitete in Coburg, Freiburg und Frankfurt am Main als Sänger und Schauspieler, bevor er 1920 als Operettensänger nach Berlin an das Theater am Nollendorfplatz wechselte. Über den Schauspieler Rudolf Klein-Rogge, dem er auch eine seiner ersten Kompositionen (Rankende Rosen, 1905) widmete, lernte er die Drehbuchautorin Thea von Harbou kennen, die seinerzeit noch mit Klein-Rogge verheiratet war. Die enge Freundschaft mit ihr und ihrem zweiten Mann Fritz Lang führte 1924 zu seiner ersten durchkomponierten Filmmusik für Die Nibelungen. Bereits hier wurde Huppertz nach Darstellung von Rainer Fabich sehr früh in die verschiedenen Entstehungsphasen des Filmes einbezogen. Während der Dreharbeiten trafen sich Komponist und Regisseur regelmäßig, um Details der Musik und des Drehbuchs zu besprechen. Hierbei trug Huppertz dem Regisseur am Klavier seine Entwürfe vor, um sie dann mit ihm zu diskutieren.[2]
Huppertz’ Komposition in Metropolis mit der Werkverzeichnisnummer opus 29 ist – wie in den zeitgenössischen Kritiken immer wieder hervorgehoben – geprägt durch die enge gestische und illustrative Verzahnung mit dem Film. Das bestätigen auch die in den Dokumenten aus dem Huppertz-Nachlass[3] überlieferten und im folgenden noch näher ausgeführten Hinweise auf die Arbeitsweise.
Huppertz Noten wurden bereits in den achtziger Jahren von Enno Patalas (Filmmuseum München) für eine analoge Restaurierung sowie für die digitale Restaurierung 2001 herangezogen, die dieser gemeinsam mit Martin Koerber im Auftrag der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden durchführte. Diese Restaurierung basierte auf der Fassung des Filmmuseum München und der im Bundesarchiv-Filmarchiv verwahrten Filmmaterialien und wurde in Zusammenarbeit mit diesen beiden Institutionen sowie Partnern des Kinemathekenverbunds realisiert. Weitere Sekundärmaterialien, die genauere Rückschlüsse auf die Premierenfassung des 10. Januar 1927 zuließen, waren 2001 der gedruckte Klavierauszug der Universum-Film A.G., Berlin, aus dem Jahr 1927 mit insgesamt 1028 notierten Synchronpunkten[4] sowie die Zensurkarte.[5]
Die 2008 in Buenos Aires aufgetauchte 16mm-Kopie warf für eine erneute Rekonstruktion unerwartete Fragen auf. War man zunächst davon ausgegangen, die bekannten Lücken der Fassung von 2001 einfach durch das argentinische Material aufzufüllen, so stellte sich bei genauerer Analyse heraus, dass auch die Montage der Version von 2001 neu überdacht werden musste, denn die argentinische Version war an etlichen Stellen anders geschnitten.
Das von Huppertz überlieferte Notenmaterial bestätigte in vielen Fällen die neuen Schnittfolgen der argentinischen Version. In anderen Fällen, in denen die Montage der argentinischen Version gegenüber der Ursprungsfassung möglicherweise verändert wurde oder überhaupt unvollständig ist, war wiederum die Musik eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion. Denn mit Hilfe der Synchronpunkte und ihrer Position innerhalb des musikalischen Ablaufes, aber auch des bereits erwähnten gestischen Charakters der Musik, können einzelne Einstellungen und Sequenzen, für die die überlieferten Filmmaterialien keinen Aufschluss über den Feinschnitt zulassen, innerhalb einer Szene genauer positioniert werden. Ganz offensichtlich war schon die Dramaturgie der Urfassung auf ein enges Zusammenwirken von Bild und Musik angelegt. Deshalb musste die Rekonstruktion nicht nur filmhistorischen, sondern auch filmmusikhistorischen Ansprüchen gerecht werden. Neben den Filmhistorikern Anke Wilkening (Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung) und Martin Koerber (Stiftung Deutsche Kinemathek) wurde deshalb auch der Autor (Europäische Filmphilharmonie) in die Arbeit miteinbezogen.
Die Rekonstruktion der Montage der Uraufführung basiert – neben den bislang überlieferten Filmfassungen und deren Rekonstruktionsversuchen – auf der argentinischen Version als der nun vollständigsten überlieferten Fassung, die wir bis heute kennen, und auf folgenden Materialien im Nachlass von Gottfried Huppertz:
- Handschriftliche Partitur der Originalmusik für Orchester, Seiten 62 bis 701 (die Seiten 1 – 61 befinden sich nicht im Archiv der Deutschen Kinemathek)
- Handschriftliche Partitur der Originalmusik in einer Fassung für kleines Orchester, 659 Seiten
- Handschriftliches Particell, 175 Seiten
- Gedruckter Klavierauszug der Universum-Film A.G., Berlin, 1927
- Originaldrehbuch mit handschriftlichen Einzeichnungen von Gottfried Huppertz
Das handschriftliche Particell
Wichtigstes Indiz für die Arbeitsweise und die Chronologie des Kompositionsprozesses von Gottfried Huppertz sind die Datumsangaben, mit denen er sein Particell[6] versehen hat. Die Recherche zeigt, dass Huppertz einen Teil des „Furioso“, also des dritten und letzten Teils von Metropolis, ab dem 17. März 1926 schrieb, und dann seine Komposition mit dem ersten Teil des „Auftaktes“ fortsetzte. Es folgten der erste Teil des Zwischenspiels und schließlich Beginn und Schluss des „Furioso“. Da Huppertz die Instrumentierung der Orchesterfassung laut handschriftlicher Datumsangabe im Orchestermanuskript am 22. November 1926 beendete, liegt die Vermutung nahe, dass er die nicht datierten Szenen zumindest in großen Teilen vor dem 17. März geschrieben haben muss, da er sonst die Instrumentierung vermutlich nicht bis zum 22. November hätte beenden können.
Ferner findet man im Particell eine Reihe von kleineren Strichen und Änderungen mit rotem oder blauem Buntstift. Es ist davon auszugehen, dass er nach dem eigentlichen Kompositionsprozess seine Musik nochmals an eine dann veränderte Schnittfassung angleichen musste. Dies geschah vor der Instrumentierung, denn dort sind diese Veränderungen bereits berücksichtigt. Dafür finden sich im Orchestermanuskript wiederum einige neue Striche, die auch in der gedruckten Klavierdirektionsstimme als „Vi-de“-Kennzeichnung[7] wiedergegeben sind. Die Klavierdirektionsstimme und das gedruckte Orchesterstimmenmaterial wurden also nach dem 22. November 1926 nochmals geändert. Da die Zeit bis zur Premiere am 10. Januar 1927 nicht ausreichte, wurden die überflüssigen Takte nicht mehr gestrichen, sondern durch einen „Vi-de“-Sprung gekennzeichnet.
Huppertz verfasste somit einen Großteil seiner Komposition während der Dreharbeiten vom 22. Mai 1925 bis zum 31. Oktober 1926 und nicht, wie bei anderen Produktionen oft und auch heute noch üblich, nach Beendigung des Schnittes. Dass die Musik im Produktionsprozess nicht als letztes Glied der Produktionskette zum Film trat, ist außergewöhnlich und erlaubt die Behauptung, dass Fritz Lang und Thea von Harbou den Komponisten an der Gestaltung des Films teilhaben lassen wollten.
Synchronpunkte und Agogik
Bei der Rekonstruktion gingen wir davon aus, dass anhand der Bewegungsabläufe, Rhythmen und der spezifischen Gestik der Musik von Huppertz Rückschlüsse auf den Bildinhalt und die Bildfolge und damit auf die Montage des Filmes möglich sind. Dabei verließen wir uns nicht nur auf die Abfolge und Position der 1028 Synchronpunkte. Wir stellten vielmehr fest, dass die Kompositionsstruktur und ihre Agogik,[8] der Einsatz und die Verarbeitung von Leitmotiven den deskriptiven Charakter der Musik bestimmen; sie hat im Gesamtkunstwerk Metropolis eine zentrale dramaturgische Funktion.
Die 2005 entstandene DVD-Studienfassung der Universität der Künste Berlin greift bereits diesen Gedanken auf; die Originalmusik wurde in einer Fassung für zwei Klaviere vollständig, also inklusive der fehlenden Bildpartien eingespielt und dokumentierte damit auch alle bildlichen Verluste. Bei der neuen Restaurierung gingen wir noch einen Schritt weiter. Dem spätromantischen Duktus der Musik, der sich an der Oper und der Symphonik des auslaufenden neunzehnten Jahrhunderts orientiert, liegt ein eigenes Tempo zugrunde. Der Komponist bindet seine Komposition natürlich eng an die Filmhandlung, tut dies aber nie auf Kosten einer gewissen Eigengesetzlichkeit seiner Musik. Eine rein mechanische Wiedergabe der Musik würde dem Wesen der Huppertzschen Komposition vollkommen widersprechen. Gestik und Agogik, die natürlich Einfluss auf das Tempo der Musik haben, mussten in die zeitlichen Abläufe des Filmes einbezogen werden. Auch die musikalischen Tempi sind in einer Orchesterinstrumentierung anders als in einer Klavierfassung. Deshalb wurde für die Restaurierungsarbeit im Computer eine Sampleraufnahme auf Grundlage der Notensatzdateien, die für die Notenherstellung benötigt wurden, hergestellt, die die Musik mit ihren Klangfarben annäherungsweise wiedergibt. Denn für die Restauratoren war es unbedingt erforderlich, zu jedem Zeitpunkt ihrer Arbeit Musik und Bild in Kombination hör- und sichtbar zu haben. Denn nur das integrale Erleben von Bild und Musik erlaubt eine Einschätzung des Zusammenwirkens beider Ebenen.
Bei strittigen Szenen und Sequenzfolgen machte es Sinn, diese zuerst gemäß der nun schon bearbeiteten Musik anzulegen, dann einzelne Einstellungen gegebenenfalls umzustellen oder Zwischentitel, die nicht in der original grafischen Gestalt vorhanden waren, eventuell zu verkürzen oder zu verlängern. Neben dem Informationsgehalt – den Synchronisationsangaben und ihrer Position – konnten anhand von Rhythmik, Tempo, innerem Metrum und harmonischer Entwicklung der Musik Rückschlüsse auf die Montage gezogen werden. Einzelphrasen, Motive und Themen sowie ihre Verarbeitung, die musikalische Darstellung von Seelenzuständen der Handlungsträger, Atmosphärenumschwünge und nicht zuletzt die illustrativen Momente lieferten ebenfalls Informationen über die Schnittfolge. Schwierig wurde es dort, wo der Komponist für die damalige Stummfilmmusikpraxis geradezu avantgardistisch anmutende Methoden anwendete. So gibt es zum Beispiel zwei parallele Handlungselemente zu der Kampfszene zwischen Freder und Rotwang auf der Galerie des Domes; Grot erklärt zeitgleich am Fuße des Domes den Arbeitern, dass die Kinder gerettet sind – daneben kniet Fredersen und bangt um seinen Sohn. Es folgt ein Schnitt auf die beiden kämpfenden Männer; Freder wird zu Boden geschlagen und sieht wenig später, dass Rotwang mit Maria im Huckepack auf das Dach klettert. Die ganze Einstellungsfolge wird in der Musik durch ein einziges durchgehendes Tremolo der Violinen begleitet. Das steht in einem unerhörten Gegensatz zur üblichen Illustrationstechnik einer „Kampfmusik“. Der Kritiker Dr. Franz Wallner greift diese Szene heraus: „Ausgezeichnet, wie beim Höhepunkt des erbitterten Raufens auf dem Dachfirst im Orchester nicht wildes Gepolter weitertobt, sondern der musikalische Schauplatz in die Seele der entsetzensgelähmt Hinaufstarrenden verlegt ist.“[9] So ging es dem Komponisten wohl um das Setzen eines klaren Kontrapunktes im Sinne einer Psychologisierung der Situation. Und den Restauratoren wurde ihre Aufgabe dadurch nicht leichter …
Das Drehbuch
Wir waren verblüfft, welche Konsequenz die Durchdringung von Musik und Film auf die Montage hat. Schon ein zeitgenössischer Kritiker stellte fest: „Man kann natürlich bei einmaliger Bekanntschaft mit diesem phantastischen Film und seiner Musik nur allgemeine Eindrücke in sich aufnehmen. Ihr bedeutsamster war die geschlossene Wirkung beider Wesenheiten, zugleich der einer wichtigen Orientierung im komplizierten Film durch die Musik von Huppertz.“[10] Die enge Zusammenarbeit zwischen der Herstellung der Musik und des Films zeigt sich gleichermaßen im Original-Drehbuch aus dem Nachlass von Gottfried Huppertz. In diesem finden sich detaillierte Angaben zur Musik, die darauf hinweisen, dass Thea von Harbou die dramaturgische Wirkung musikalischer Effekte bereits in ihrer Drehbuchkonzeption berücksichtigt hat.
Zahlreiche handschriftliche Eintragungen im Drehbuch beziehen sich auf die Längen der Filmsequenzen. Huppertz notierte meistens pro Bild, aber auch häufig pro Einstellung die genaue Meterzahl und rechnet sie gleich in Sekunden um (zum Beispiel bei Bild 65: 88m = 176 Sek).
Der gedruckte Klavierauszug von 1927
Mit hoher Sicherheit hatte sich Huppertz die einzelnen Tagesaufnahmen und längere, bereits montierte Teile des Filmes am Schneidetisch angesehen. Dies ist auch der Grund für die Präzision seiner Komposition. Aus der Umrechnung in Sekunden lässt sich die damalige Vorführgeschwindigkeit des Films errechnen. Zeitgenössische Kritiken sprechen von einer zweieinhalbstündigen bis zweieinviertelstündigen Dauer der Premierenfassung. Huppertz bestimmt bei der Umrechnung Meter zu Sekunden ein Verhältnis von 1 zu 2. Das heißt, dass er seiner Komposition eine Vorführgeschwindigkeit von rund 26 Bildern pro Sekunde zugrunde legt. In einer Notiz auf der ersten Seite des gedruckten Klavierauszugs von 1927 heißt es: „Nach der gekürzten (amerikanischen) Fassung eingerichteter, gestrichener und geänderter Klavierauszug 71 Striche (1000m weg); 2 neue Stellen.“ Und auf der nächsten Seite findet man dann: „Vorführgeschwindigkeit: 28“.[11]
An diese hohe Bildfrequenz war das Publikum in den zwanziger Jahren gewöhnt; heute dagegen ist im Kino eine Vorführgeschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde normal. Wir entschieden uns gegen eine historistische und für die heute übliche Vorführgeschwindigkeit.
Neueditionen der Orchesterfassung
Die aktuelle Rekonstruktion von Film und Musik zu Metropolis hat nicht nur zu neuen Erkenntnissen über den Film, sondern auch zu neuen Einsichten über die Musik geführt. Zum einen können nun etliche Musikteile in der Orchesterfassung gespielt werden, die bislang aufgrund fehlenden Filmmaterials nicht verwendet wurden und somit in der bisherigen Noten-Druckausgabe auch nicht vorhanden sind. Zum anderen werden mit der neuen, vollständigeren Filmversion und der Wiederherstellung der ursprünglichen Szenen- bzw. Sequenzabfolgen etliche größere und kleinere (Rück-) Umstellungen der Musik notwendig. Im Vergleich mit der bisherigen Notenedition ergeben sich auch Abweichungen bei den dynamischen Angaben und den temporelevanten Bezeichnungen. Aus diesen Gründen und im Sinne der Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der Rekonstruktionsarbeit macht nur eine solche Ausgabe der Musik Sinn, die den klaren Schnitt in der Rekonstruktionsgeschichte von Metropolis widerspiegelt und mehr als nur eine Ergänzung oder Korrektur der bisherigen Ausgabe darstellt. Deshalb hat sich die Europäische Filmphilharmonie entschlossen, das Werk in zwei verschieden Ausgaben zu erstellen – in einer Urtextausgabe und in einer kritisch-editorischen Aufführungsausgabe.
Die Grundlage für die Editionsarbeit umfasste die folgenden überlieferten Quellen:
- die handschriftliche Originalpartitur für Orchester (Besetzung: zweifaches Holz mit Saxophonen, zehn Blechbläser, Pauken und Schlagzeug, Klavier, Orgel, Celesta, Harfe und Streicher)
- die handschriftliche Originalpartitur und gedruckte Stimmen für kleines Orchester (Flöte, Oboe, Klarinette, Saxophon, zwei Hörner, Trompete, Posaune, Harmonium, Klavier, Schlagzeug und vier Streicher)
- den gedruckten Klavierauszug inklusive Synchronangaben
- das handschriftliche Particell
Da die Partitur der großen Orchesterfassung – im Gegensatz zur kleinen Orchesterfassung und dem Klavierauszug – nicht in Gänze erhalten ist, war eine Rekonstruktion der fehlenden ersten 61 Seiten notwendig.
Zunächst wurde die autographe Partitur der Orchesterfassung samt Particell aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek als digitaler, hochaufgelöster Scan vorbereitet; anschließend wurden die überlieferten Teile detailgetreu in ein Notensatzprogramm übertragen. Dieser Datensatz bildete die Grundlage zur Erstellung der Aufführungsmaterialien.
Ausgehend von dem noch in Gänze erhaltenen Klavierauszug sowie der kleinen Orchesterfassung wurde der Beginn des Filmes, der nicht mehr als Orchesterpartitur vorliegt, für die große Orchesterbesetzung neu instrumentiert, so dass sie sowohl dem Klangideal des Komponisten als auch dem klanglichen Eigencharakter des Gesamtwerkes Rechnung trägt. Die Neuinstrumentation soll sich nahtlos in das Gesamtbild der noch original erhaltenen Musik einfügen und nicht als neuzeitlicher Eingriff zu erkennen sein. Ein wichtiger Anhaltspunkt hierbei ist das überlieferte Particell mit erläuternden Instrumentierungsangaben. Diese Vorgehensweise führte zu zwei verschiedenen Musikausgaben
Diese Fassung basiert auf einer Übertragung aller originalen Informationen. Sämtliche Noten, agogische und dynamische Bezeichnungen, Tempoangaben, Synchronangaben etc. der Originalvorlage des überlieferten Musikmaterials wurden in einen digitalen Notensatz übertragen. Das heißt, dass hier keinerlei subjektive oder kritisch-editorische (mit Ausnahme von offensichtlichen Notenschreibfehlern und weiteren offensichtlichen Irrtümern) Veränderungen hinsichtlich des Ablaufes der dann neuen Rekonstruktion der Filmkopie vorgenommen wurden. Diese Ausgabe soll einerseits für die Film- und Musikwissenschaft als Forschungsgrundlage dienen und andererseits auch den Grunddatensatz für eine eventuell zukünftig notwendige Veränderung der kritisch-editorischen Aufführungsausgabe infolge möglicher weiterer Veränderungen der filmischen Restaurierung liefern.
Kritisch-Editorische Aufführungsausgabe
Auf Grundlage des Datensatzes der Urtextausgabe wurde eine Aufführungsausgabe in Form einer Partitur mit Orchesterstimmen hergestellt, die alle notwendigen Änderungen berücksichtigt. So mussten zum Beispiel Entscheidungen über den richtigen Umgang mit überlieferten Strichen oder auch scheinbar „überzähligen“ Takten der Originalpartitur getroffen und neue Lösungen für musikalische Übergänge gefunden werden. In der Aufführungsausgabe wurden alle Veränderungen hinsichtlich des Ablaufes mit notwendigen Strichen, Wiederholungen sowie den zu schaffenden Übergängen, die sich durch die noch wenigen fehlenden Teile ergeben, berücksichtigt. Ferner wurden alle überlieferten Synchronangaben präzise gesetzt und durch weitere Synchronangaben ergänzt, die der Dirigent für eine exakte Aufführung der Musik benötigt. Tempoangaben wurden überprüft und angeglichen. Kontrolliert wurden ebenfalls die dynamischen und agogischen Bezeichnungen. Bislang fehlende Metronomangaben wurden hinzugefügt. Es wurde ein unter filmmusikwissenschaftlichen Gesichtspunkten neu ediertes Aufführungsmaterial erstellt, das eine historisch adäquate Aufführung des Werkes erlaubt. Beide Editionen werden in der Europäischen Filmphilharmonie erhältlich sein.
Musikologischer Exkurs
Die Metropolis-Musik setzt sich vor allem aus sechs Komponenten zusammen:
1. Leitmotive, 2. szenenbezogene Themen und Motive, die jeweils nur für eine Stelle des Films bestimmt sind, 3. längere Abschnitte, die primär musikalischen Gesetzen folgen, 4. Ostinatofiguren mit Leitmotivcharakter, 5. musikalische Deskription und 6. Zitate.
Am häufigsten treten Leitmotive auf. Zumeist sind sie wichtige Figuren und Figurengruppen (Maria, Freder, Maschinenmensch, Arbeiter) zugeordnet, aber auch inhaltliche Momente (Liebe, Aufstand, Sinnspruch, Mittler) werden mit musikalischen Themen verknüpft. Sie erklingen in der Regel nacheinander, in einigen Fällen aber auch gleichzeitig, und folgen eng dem Gang der Szene. [...]
Bemerkenswert ist eine musikalisch-motivische Verwandtschaft zwischen einzelnen Themen, bestimmt durch inhaltliche oder dramaturgische Momente (Freder/Mittler/Sinnspruch, Rotwang/Moloch, Arbeiter/Plan, Maschinenmensch/Aufstand).
Ähnliche Verknüpfungen finden sich auch beim szenengebundenen Babelturm-Motiv, mit seinen Anklängen an das Metropolis- und das Moloch-Thema. Weitere Motive, die lediglich mit einer Filmszene verknüpft sind, wie Stadion und Wettrennen, sind nur vereinzelt anzutreffen.
Viel seltener als Leitmotive finden sich auch längere Abschnitte, die primär musikalischen Gesetzen folgen – der Walzer der „Ewigen Gärten“, der die Yoshiwara-Sequenz begleitende Foxtrott. Beim Yoshiwara-Foxtrott greift Huppertz, in den synkopischen Rhythmen, jazzartigen Harmonien und der Verwendung des Saxophons, Elemente der damals aktuellen Tanzmusik auf.
Mechanisch repetierende rhythmische Ostinatofiguren des Orchesters gibt es vor allem bei den Maschinen-Sequenzen. Sie sind auch in der zeitgenössischen Konzertmusik anzutreffen und typisch für die ambitionierte Filmmusik der zwanziger Jahre [...].
Musikalische Deskriptionen kommen seltener vor, sie illustrieren ausgewählte Ereignisse, wie Explosionen und Einstürze, oder zeichnen Bewegungsvorgänge nach, Laufen, Rennen – am ehesten geht Huppertz hier an die Grenzen der Tonalität.
Häufig sind Zitate – wie in vielen Stummfilmkompositionen ertönt zur Darstellung revolutionärer Ereignisse auch hier die Marseillaise; Unheil, Tod und Verdammnis insinuiert leitmotivisch die mittelalterliche Choralweise Dies irae.“
Aus: Enno Patalas: Metropolis in/aus Trümmern. Eine Filmgeschichte. Berlin: Bertz-Verlag, 2001, S. 9f.
Mit der freundlichen Genehmigung von Rainer Fabich.
Zum Particell
Auftakt (1. – 155. Bild des Drehbuchs)
Die Datumsnummerierung für den „Auftakt“ beginnt mit dem 11. Mai 1926 und endet am 3. Juli 1926. Die Nummerierung endet mit dem 108. Bild – der Diskussion im Hause Rotwangs zwischen Rotwang und Fredersen um die von beiden geliebte Hel.
Zwischenspiel (156. – 224. Bild des Drehbuchs)
Die Komposition des „Zwischenspiels“ wurde am 5. Juli 1926 begonnen und endet bereits mit dem 208. Bild am 24. Juli 1926. Zu den letzten 16 Bildern gibt es keine zeitlichen Angaben im Particell.
Furioso (225. – 406. Bild des Drehbuchs)
Das „Furioso“ schrieb Huppertz mit zeitlicher Unterbrechung vom 26. Juli 1926 bis ca. 29. Juli 1926 (bis 243. Bild). Bild 244 bis Bild 226 schreibt Huppertz vom 17. März 1926 bis zum 8. Mai 1926.
[1] Gottfried Huppertz. 11. März 1887, Köln – 7. Februar 1937, Berlin. Komponist der Originalmusiken zu Die Nibelungen, Metropolis und Zur Chronik von Grieshuus.
[2] Vgl. Rainer Fabich: Musik für den Stummfilm. Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang, 1993, S. 195.
[3] Der Nachlass von Gottfried Huppertz befindet sich in den Sammlungen der Stiftung Deutsche Kinemathek. Signatur: 4.7-79/05.
[4] Synchronpunkte sind Stichworte über dem Notensystem im Klavierauszug und in den handschriftlichen Manuskripten, die dem Dirigenten als Unterstützung dienen, um die Synchronität von Film und Musik zu gewährleisten.
[5] In der Zensurkarte sind alle Zwischentitel eines Films vermerkt sowie jene Teile des Films, die von der Prüfstelle verboten wurden.
[6] Eine auf mehreren Notenliniensystemen angeordnete Kompositions- und Instrumentationsskizze als Vorstufe der ausgearbeiteten Partitur.
[7] Hinweis, der bei möglichen Kürzungen (=Strichen) in Partitur und Stimmen einer Komposition den Sprung von dem mit vi- bezeichneten Anfang bis zu dem mit –de gekennzeichneten Schluss der jeweils auszulassenden Stelle angibt.
[8] Bezeichnung für die dem lebendigen musikalischen Ausdruck dienenden und nicht notierten kleinen Schwankungen von Tempo und Rhythmus innerhalb eines vorgegebenen Zeitmaßes.
[9] Dr. Franz Wallner: Die „Metropolis“-Musik. In: B.Z. am Mittag, Berlin. 14. Januar 1927.
[10] Anonym: Filmmusik. In: Signale für die musikalische Welt, Berlin. 85. Jg., Nr. 3, 19. Januar 1927.
[11] Gedruckter Klavierauszug der Universum-Film A.G., Berlin, 1927, im Nachlass von Gottfried Huppertz, Stiftung Deutsche Kinemathek.